Die moderne Krebsmedizin ermöglicht die Behandlung auch hochbetagter mehrfach belasteter Menschen und orientiert sich dabei an verschiedenen Leitlinien. Ältere Patientinnen und Patienten profitieren jedoch nur bedingt davon, denn oft sind Begleiterkrankungen sowie körperliche und kognitive Einschränkungen entscheidende Faktoren bei einer möglichen Behandlung. Um der Heterogenität dieser Menschen bei onkologischen Therapieempfehlungen gerecht zu werden, kann die partizipative Entscheidungsfindung helfen. Diese ethisch angemessen und rechtlich sicher zu gestalten, ist für alle Beteiligten eine große Herausforderung. Ein von der Deutschen Krebshilfe mit 350.000 Euro gefördertes Projekt zur Stärkung der partizipativen Entscheidungsfindung in der geriatrischen Onkologie (PartEngO) erprobt aktuell einen entsprechenden Ansatz in der klinischen Routine.
Internationale Studien haben den Nutzen eines umfassenden geriatrischen Assessments zur Erfassung möglicher Risikofaktoren für die Therapieplanung und -entscheidung gezeigt.1-3 Es mangelt aber noch immer an der Integration in den klinischen Alltag.4
Das PartEngO-Projekt unter der Leitung von PD Dr. med. Heike Schmidt von der Universitätsmedizin Halle und in Zusammenarbeit mit dem Interdisziplinären Wissenschaftlichen Zentrum Medizin-Ethik-Recht der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat zum Ziel, relevante Risikofaktoren und Ressourcen der Betroffenen zu erfassen und in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Somit können auch eventuelle Abweichungen von den Empfehlungen der Tumorboards inhaltlich rechtssicher begründet werden.
Um für den Einzelfall Chancen und Risiken möglicher Behandlungen nachvollziehbar abschätzen und erläutern zu können, werden ergänzend zu den klinischen Befunden objektive Assessments z. B. zur Mobilität, Ernährung und Kognition einbezogen. Wichtig sind zudem patientenberichtete Angaben zu Lebenssituation und sozialer Unterstützung, Funktionalität, körperlichen und psychischen Belastungen sowie Lebensqualität. Diese zusätzlichen Informationen sind digital zusammengefasst, grafisch nach dem Ampelprinzip aufbereitet und können so leichter für die gemeinsame Entscheidungsfindung genutzt werden.
Eine strukturierte Dokumentation der entscheidungsrelevanten Aspekte (einschließlich der Präferenzen der Betroffenen z. B. Lebensqualität oder möglichst langes Überleben) soll für eine gute Nachvollziehbarkeit des Entscheidungsprozesses sorgen. Dadurch ergibt sich auch bei Abweichungen von der Empfehlung des Tumorboards eine Rechtssicherheit. Die Patientinnen und Patienten werden durch ein Heft „Meine Fragen“ mit fünf Fragen zur Schwere und zu möglichen Auswirkungen der Erkrankung sowie der Behandlungsoptionen auf die Lebensqualität ermutigt, sich aktiv am Entscheidungsprozess zu beteiligen.
Um eine standardisierte Umsetzung der Intervention zu unterstützen, stehen den beteiligten Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften E-Learning Module mit ergänzenden Beispielvideos mit einem Schauspielpatienten zur Verfügung. Für das ärztliche Personal umfasst das E-Learning Informationen zum medizinischen Hintergrund und ethisch-juristischen Aspekten der partizipativen Entscheidungsfindung sowie Besonderheiten der Kommunikation mit älteren Krebspatientinnen und -patienten. Besondere Schwerpunkte liegen auf der patientenzentrierten Gesprächsführung, der Einbeziehung der Inhalte aus den ergänzenden Assessments und Befragungen in die gemeinsame Entscheidungsfindung sowie auf angepassten Informationen zu Risiken und Chancen möglicher Therapieoptionen und der strukturierten Dokumentation.
Zudem besteht die Möglichkeit eines simulierten Entscheidungsgesprächs mit einem Schauspielpatienten. Für die beteiligten Pflegenden werden Anleitungen und Videos zur Durchführung der Assessments bereitgestellt und Möglichkeiten aufgezeigt, um die Betroffenen zu motivieren, das Heft „Meine Fragen“ zu nutzen. Die in PartEngO konzipierten Interventionen werden im Rahmen dieses Pilotprojektes bis Februar 2025 an insgesamt zehn klinischen Kooperationszentren in Halle (Saale) und Erlangen auf Machbarkeit, Akzeptanz und potenziellen Nutzen aus Sicht aller Beteiligten untersucht.
Das Projekt ist Teil des Förderschwerpunktes der Deutschen Krebshilfe Ethische Verantwortung in der modernen Krebsmedizin.
Das Ampelprinzip
am Beispiel der körperlichen Funktion und Selbstversorgung aus der Zusammenfassung der ergänzenden Ergebnisse. Die objektiven Assessments und Patientenangaben zur Lebensqualität (EORTC QLQ-C30 und Elderly Modul) sowie zur Lebenssituation werden gleich gewichtet. Die Farbe der großen Kreise für die Domänen richtet sich nach der schlechtesten Farbe der einzelnen Assessments.
PD Dr. med. Heike Schmidt
Ansprechpartnerin:
Universitätsmedizin Halle
PD Dr. med. Heike Schmidt
E-Mail:
Internet: https://www.umh.de/..
Fotos: Universitätsmedizin Halle
Literaturverzeichnis
1Dotan E. et al. NCCN Guidelines® Insights: Older Adult Oncology, Version 1.2021. J Natl Compr Canc Netw. 2021 Sep 20;19(9):1006-1019. doi: 10.6004/jnccn.2021.0043.
2 Hamaker, Marije; Lund, Cecilia; Te Molder, Marthe; Soubeyran, Pierre; Wildiers, Hans; van Huis, Lieke; Rostoft, Siri (2022): Geriatric assessment in the management of older patients with cancer - A systematic review (update). In: Journal of Geriatric Oncology 13 (6), S. 761–777. DOI: 10.1016/j.jgo.2022.04.008.
3Soto-Perez-de-Celis E. et al.. Functional versus chronological age: geriatric assessments to guide decision making in older patients with cancer. Lancet Oncol. 2018 Jun;19(6):e305-e316. doi: 10.1016/S1470-2045(18)30348-6. Epub 2018 Jun 1. PMID: 29893262.
4McKenzie GAG. et al. Implementation of geriatric assessment in oncology settings: A systematic realist review. J Geriatr Oncol. 2021 Jan;12(1):22-33. doi: 10.1016/j.jgo.2020.07.003.