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Entscheidungsfindung in komplexen Versorgungssituationen:

Praxisbeispiel aus der ambulanten Ethikberatung der Ärztekammer Sachsen-Anhalt

Praxisbeispiel aus der ambulanten Ethikberatung der Ärztekammer Sachsen-Anhalt

Seit April 2023 bietet die Ärztekammer Sachsen-Anhalt über deren Ethikkommission ambulante Ethikberatung für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte an. Ethikberatung ist ein Gesprächsangebot zur Unterstützung von Ärztinnen und Ärzten, Pflegenden, Angehörigen und weiteren Beteiligten bei der Entscheidungsfindung in ethisch schwierigen Versorgungssituationen und findet typischerweise in Form einer moderierten Gruppendiskussion statt. Ethikberatung hilft, den Entscheidungsprozess zu strukturieren und kann eine Orientierungshilfe für das weitere Vorgehen darstellen. Im Folgenden soll ein Fall aus der Beratungspraxis vorgestellt sowie das Angebot näher beleuchtet werden.

Im Mittelpunkt steht die Ermittlung des mutmaßlichen Willens der betroffenen Person, über welchen große Unsicherheit oder Uneinigkeit besteht.

Das Pflegeteam war sich nach dem Auffinden einer Patientenverfügung bei einer 75-jährigen Pflegeheimbewohnerin nicht mehr sicher, ob die aktuelle Versorgung noch ihrem Willen entsprach und wandte sich daraufhin an die ambulante Ethikberatung. Die Bewohnerin lebte seit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma 10 Jahre zuvor im Pflegeheim, war seitdem bettlägerig und wurde durch eine PEG-Sonde ernährt. Durch traumabedingte Hirnblutungen verlor sie die Hälfte ihres Gehirns und litt seitdem unter starken kognitiven Einschränkungen (u. a. anterograde Amnesie). Mit der Zeit hatte sie die Fähigkeit zu grundlegender Kommunikation entwickelt. Auf die Frage, wie es ihr gehe, antwortete sie täglich „unverändert schlecht“; auf die Nachfrage „Warum?“ gab sie keine Antwort und wandte nur den Kopf ab. Laut Aussage der Pflegenden litt sie unter ihrer Situation, an die sie sich jedoch auch gewöhnt hätte. Menschliche Zuwendung schien ihr gut zu tun und sie nutzte die religiösen Angebote des Pflegeheims. Ihr medizinischer Zustand war insgesamt stabil.

Vor ihrem Trauma hatte die Bewohnerin eine Patientenverfügung erstellt, in der sie die Einstellung von lebenserhaltenden Maßnahmen im Falle einer schweren Gehirnschädigung, die ihr u. a. die Kontaktaufnahme zu anderen verwehren würde, wünschte. Dieser Zustand trat damals ein. Im Rahmen der Versorgung auf einer Intensivstation nach dem Trauma fand bereits eine klinische Ethikberatung statt, bei der, entsprechend der Patientenverfügung, die Beendigung der künstlichen Beatmung und Ernährung empfohlen wurde. Im Nachgang der Beratung wurde ärztlicherseits jedoch die Fortführung der lebenserhaltenden Maßnahmen angeordnet, was der Entscheidung der rechtlichen Betreuerin (der Tochter) widersprach. Obwohl dies für die Tochter eine große Belastung darstellte, ging sie nicht dagegen vor. Bei der Bewohnerin war zudem seit langem eine Schizophrenie bekannt, die erst wenige Jahre vor dem Trauma auffällig wurde und die Einnahme von Medikamenten erforderte. Laut Aussage der Tochter hätten die psychiatrischen Medikamente als Nebenwirkung Suizidgedanken verursacht, die möglicherweise mit dem Trauma in Verbindung stehen könnten. In der aktuellen Ethikberatung wurde im nächsten Schritt die Validität der Patientenverfügung diskutiert. Zwar bestand die Diagnose Schizophrenie, allerdings reicht das alleinige Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung nicht aus, um die grundsätzliche Annahme der Einwilligungsfähigkeit infrage zu stellen (Gather et al. 2016). Die Patientenverfügung wurde nicht während einer akuten psychotischen Krankheitsepisode verfasst. Laut Aussage der Tochter war ihre Mutter zum Zeitpunkt der Abfassung sehr klar und sei sich der Konsequenzen ihrer Entscheidung bewusst gewesen. Auch der Inhalt der Patientenverfügung selbst enthielt keinen Anlass für Zweifel. Es bestanden somit keine konkreten Anhaltspunkte für die Einwilligungsunfähigkeit der Bewohnerin zum Zeitpunkt der Abfassung ihrer Patientenverfügung.

Nach der Faktensammlung wurden die möglichen Handlungsoptionen zusammengetragen und medizinethisch bewertet. Möglich war einerseits das Fortführen einer Maximaltherapie, welche beim Eintreten von schweren Komplikationen auch zu einer Reanimation und Krankenhausbehandlung führen würde. Eine zweite Möglichkeit war eine palliative Orientierung, welche entweder hausärztliche therapeutische Interventionen auf Heimebene zulassen
(z. B. Behandlung eines Harnweginfekts) oder kurative Eingriffe gänzlich ausschließen würde. Zuletzt wurde auch die Einstellung der PEG-Sondenernährung als Option genannt. Vor dem Hintergrund der medizinethischen Prinzipien Wohltun und Nichtschaden schätzten die Beteiligten eine Verlängerung des Lebens der Bewohnerin aufgrund ihres Leidenszustandes um jeden Preis nicht als wohltuend für sie ein. Im Hinblick auf den Respekt vor der Patientenautonomie wurde sich bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens der Bewohnerin auf die Patientenverfügung und die Einschätzung enger Bezugspersonen berufen. Die Patientenverfügung enthielt eine eindeutige Zustimmung zu einer Therapiebegrenzung. Allerdings traf sie nicht mehr vollständig auf ihre Lebens- und Behandlungssituation zu, da sie nun wieder zur (eingeschränkten) Kontaktaufnahme mit anderen Menschen in der Lage war. Die Tochter war davon überzeugt, dass ihre Mutter immer noch an dieser Entscheidung festhalten würde und wünschte sich, dass ihr seit langem bestehender Wille endlich beachtet würde. Die Pflegenden waren sich nicht sicher, ob die Bewohnerin eine Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen jetzt wünschen würde, da sie sich über die Pflegezuwendung sowie die religiöse Betätigung zu freuen schien. Es wurde sich schließlich gemeinsam dafür entschieden, dass die Bewohnerin zwar weiter ohne Einschränkungen auf Heimebene hausärztlich behandelt werden, jedoch nicht reanimiert und nicht mehr in ein Krankenhaus gebracht werden sollte. Die Verantwortung für die Behandlungsentscheidung verblieb bei dem behandelnden Arzt.

In unserer ambulanten Ethikberatung geht es wie im beschriebenen Fall typischerweise um Situationen, in denen ein bisheriger kurativer Therapieansatz infrage gestellt wird. Im Mittelpunkt der Diskussionen steht dann zumeist die Ermittlung des mutmaßlichen Willens der betroffenen Person, über welchen große Unsicherheit oder Uneinigkeit besteht. Aber auch andere Konflikte, z. B. Fragen zum Umgang mit Gewalt oder Zwangsmaßnahmen, können in der ambulanten Ethikberatung besprochen werden (ZEKO 2020). Nicht selten sind es Kommunikationsprobleme unter den Beteiligten, die einem vermeintlich ethischen Problem zugrunde liegen: Durch regelmäßige Gespräche mit den anderen an der Versorgung beteiligten Personen können hier bereits Lösungen gefunden werden. Eine Ethikberatung führt bei den Teilnehmenden oft zu einer großen Erleichterung und Entlastung. „Festgefahren“ geglaubten Situationen eröffnet die Unterstützung wieder einen Handlungsspielraum, in welchem sich dann ein oder mehrere gut begründbare Lösungswege abzeichnen. Das Beratungsangebot der Ärztekammer Sachsen-Anhalt steht primär den Ärztinnen und Ärzten des Landes, aber auch Pflegenden zur Verfügung. Andere Beteiligte werden gebeten, sich zunächst an die behandelnde Ärztin oder den behandelnden Arzt zu wenden und die Möglichkeit einer Ethikberatung gemeinsam zu erörtern.

Anne-Sophie Gaillard, M.mel.

Sollten Sie Bedarf an einer Ethikberatung haben, kontaktieren Sie bitte Frau Holst:
Tel.: 0345/2902119, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Literatur:

Gather, Jakov, Tanja Henking, Georg Juckel und Jochen Vollmann. 2016. 'Vorausverfügte Therapieablehnungen in Situationen von Eigen- oder Fremdgefährdung. Ethische und rechtliche Überlegungen zur Umsetzung von Patientenverfügungen in der Psychiatrie', Ethik in der Medizin, 28: 207-22.

Zentrale Ethikkommission (ZEKO) bei der Bundesärztekammer. 2020. 'Außerklinische Ethikberatung', Deutsches Ärzteblatt Online. DOI: 10.3238/baek_sn_aeb_2019