Es dürfte ein weiter Weg sein vom antiquierten Antlitz zum modernen Cyberface. In der Alltagssprache versteht man darunter wohl das Gesicht, den essenziellen und prägenden Teil der Vorderansicht unseres Körpers. Der Mensch ist ohne Gesicht weder vollständig noch überhaupt denkbar. Es ist nach G. C. Lichtenberg die unterhaltsamste Fläche auf Erden – und zugleich die geheimnisvollste, eine Bühne für unsere Gefühle, strahlend und sich verdüsternd wie das Wetter.
Andrea Köhler, die Autorin dieses Essays, kommt aus der Germanistik und der Philosophie. Es geht also hier nicht vordergründig um Anatomie, Physiologie oder Sensorik sondern um grundlegende Reflexionen zu dieser Schnittstelle zwischen dem Ich und seiner Umwelt, ein kennzeichnendes Merkmal unserer Individualität. Sich mögen oder nicht mögen wird unter Gesichtern ausgemacht, die Liebe auf den ersten Blick von ihnen gezündet. Schon für das Neugeborene stehen Gesichter an der Spitze seiner Interessen. Mehr als drei Sekunden lang geradewegs in die Augen einer anderen Person zu sehen, ist unschicklich, wenn nicht gar übergriffig. Es sei denn, es wird angekündigt, wie es der Filmstar mit „Ich schau dir in die Augen, Kleines“ ins Gedächtnis der neuzeitlichen Sprüche schrieb. Ebenso dürfte die Gesichtsblindheit (Prosopagnosie), eine Störung der Wiedererkennung von Gesichtern, zu Irritationen führen, wenn z. B. der Ehemann bei der Begegnung außer Haus scheinbar achtlos an seiner Frau vorübergeht, wie der britische Neurologe Oliver Sacks an sich erfahren musste. Mit solcher angeborenen, mehr oder weniger ausgeprägten Gesichtsblindheit soll jedes 40. bis 50. Neugeborene das Licht der Welt erblicken. Ein komplexes kognitives Netzwerk lässt in diesem Fall Kompensationen zu: Erinnerungen, Gefühle und Stimmenklang z. B. verhindern den Absturz ins Asoziale. Die Attraktivitätsforschung lehrt, dass das schöne Gesicht das durchschnittliche sei. Ein zerstörtes Gesicht aber ruft Entsetzen und Abscheu hervor. Vierzehn Prozent der Rückkehrer aus dem Ersten Weltkrieg waren von weggeschossenen Gesichtern gezeichnet. Sie gaben, zusammen mit den Fortschritten der Anästhesie, den Impuls für die rasante Entwicklung der plastischen Gesichtschirurgie, die dann zur Basis der sog. Schönheitschirurgie bis zu den Gesichtsmanipulationen unserer Tage wurde.
Ein Irrweg durch charakterliche Deutung von Gesichtern war (und ist) die sog. Physiognomik, die letztendlich zum Begriff der Verbrechervisage und zur herabsetzenden und rassistischen Diskriminierung von Mitmenschen mit allen negativen Folgen führte. Gesichtern, gleich ob nackt oder behaart, kann man sich nicht entziehen. Das eigene Gesicht aber bekommt man nicht „zu Gesicht“, lediglich seine spiegelbildliche oder bildgebend reproduzierte und somit zeitlich versetzte Version. Es ist die genuine Fähigkeit unserer facies, in jedem Moment anders auszusehen als soeben noch. Das scheinbar perfekte Gesicht sieht uns von den Plakaten großformatiger Wahlwerbung an, unbewegt, manipuliert, bearbeitet. Es verlockt geradezu zum defacing, der Schändung durch entstellende Übermalungen mit Bart, Zahnlücke, Brille etc. Die allgegenwärtige Selfiekultur ist eine Inszenierung vorweggenommener Erinnerungen an sich selbst. Die so erhaltenen vergleichenden Erkenntnisse der eigenen Unvollkommenheit in punkto Schönheit befeuert die Explosion des Schönheitswahns und seiner profitablen Geschäftsmodelle.
Andrea Köhler strukturiert ihr Essay in sieben Kapitel (mit Satzfehler in der Durchnummerierung). Zwischengeschaltet sind interessante Geschichten zum Stoff, die Intermezzi. Sie gibt dem Cyberface, dem Find Face und dem Fake Face den gebührenden Raum, weist auf die Risiken der KI bei der biometrischen Generierung von Gesichtern aus großen, öffentlich zugängigen Datensammlungen hin. Jedes Gesicht sei ein Geschenk: „Ohne das Aufleuchten der Freude zwischen Gesichtern, ohne das Wiedererkennen des Schmerzes in den Zügen des Gegenüber wäre das eine trostlose Welt“. Das in vornehm-konservativer Aufmachung und handlicher Form mit kompaktem, spannendem Inhalt dargebotene Bändchen kann als anspruchsvolle Lektüre empfohlen werden.
F.T.A. Erle, Magdeburg (September 2024)